Bis zu 800 Menschen auf dem Obertorplatz – und zum Schluss die Feuerwehr
Eine Schülerin, die fragt, ob sie trotz ihres deutschen Passes abgeschoben werden kann. Diese Angst dürfte ihr genommen worden sein durch die große Demonstration gegen Rechts und Fanatismus.
Ob es mindestens 600 waren, oder doch annähernd 800? Genau gezählt hat die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der ersten Hechinger Kundgebung „Für Demokratie und gegen Extremismus“ am Samstag auf dem Obertorplatz niemand.
Es waren so viele Menschen auch aus der weiten Umgebung, dass es ausreichte, um das erhoffte Ausrufezeichen zu setzen: Wir wollen weiterhin schön bunt, frei und selbstbestimmt leben, und wir sind die ganz klare Mehrheit! Zahlreiche Rednerinnen und Redner zeichneten eine klare Kante gegenüber denen, die der Demokratie an den Kragen wollen.
Neue Heimat Deutschland
Eigentlich hätte nur einer ans Mikrophon gemusst: Der 18-Jährige Jad, vor neun Jahren geflohen aus seiner Heimat Syrien, brachte alles in einem kurzen Satz unter, was gegen Rechtsextremismus gesagt werden muss: „Ich bin Deutscher!“ Aber hoppla, plötzlich konnte man froh darüber sein, diesen Satz zu hören.
Gute Stimmung herrschte freilich überall auf dem Platz. Über die im Vorfeld angemeldeten 300 Kundgebungsteilnehmer hatte man ganz schnell nur lächeln können. Denn der Obertorplatz, sonst um diese Tageszeit eher ausgestorben, war voller Menschen. Viele von ihnen hatten Plakate dabei: Nazis den Vogel zeigen, Nie wieder ist jetzt, Fick Dich, Fascho. Mann und Frau wollten es auf den Punkt bringen.
Schweigeminute zum Auftakt
Ein Dutzend Rednerinnen und Redner sorgten dafür, dass die Kundgebung gut eineinhalb Stunden dauerte. Den Auftakt machte Christoph Kühner. Der CDU-Stadtverbandschef hatte den Anstoß zu dieser Demonstration gegeben, mit der sich das kleine Hechingen erfolgreich eingereiht hat in viel größere Städte der ganzen Republik, wo spätestens seit der unseligen Potsdamer Runde der Ultrarechten und deren Vertreibungsphantasien Hunderttausende auf die Straßen gehen. Kühner unterstrich, dass der Tag der Kundgebung mit Bedacht gewählt war und bat um eine Schweigeminute zum Holocaust-Gedenktag. Wie etliche nach ihm bat der Christdemokrat darum, sich bei den Kommunalwahlen und der Europawahl am 9. Juni einzubringen – entweder persönlich als Kandidat für ein Ortsparlament oder durch eine hohe Wahlbeteiligung.
Bloß nicht schweigen
Diskutieren, sich beteiligen, nicht schweigen. Das verlangte Regina Heneka von ihren Zuhörerinnen und Zuhörern. Die Sprecherin der CDU-Fraktion im Hechinger Gemeinderat forderte dazu auf, nicht den einfachen und hasserfüllten Parolen auf den Leim zu gehen. Nur so könnten auch noch die Kinder und Enkel in Frieden und Freiheit aufwachsen.
Wichtig, wohin man geht
Nein zu Hass und Ausgrenzung, das war die Botschaft von Werner Beck. Der Vorsitzende der Freien Wähler im Stadtrat votierte für eine Gesellschaft des Zusammenhalts, in der es nicht interessiert, woher der oder die eine kommt, sondern, wohin man gemeinsam geht. Gerade Hechingen mit seinen vertriebenen, ehemaligen jüdischen Mitbürgern, so Beck, habe eine besondere Verantwortung, wenn es um jede Form von Extremismus gehe.
Potsdam und die Geschichte
Jürgen Fischer, der SPD-Chef im Gemeinderat und im Arbeitskreis Asyl federführend fürs Projekt Arbeitsvermittlung tätig, begrüßte ganz besonders die Freundinnen und Freunde aus anderen Ländern der Erde. Man sei nicht hier, um die Ampel-Regierung zu stützen oder zu stürzen, sagte der Sozialdemokrat. Man versammle sich, um für die Grundlagen des Zusammenseins einzustehen und Gesicht zu zeigen gegen Hetze und Fanatismus. Die von AfD und Rechten in Potsdam debattierte Abschiebung von zwei Millionen Menschen sei nichts anderes als KZ und Endlösung, sagte Fischer.
Nicht irremachen lassen
Wie es nach der Kundgebung weitergehen soll, das thematisierte Almut Petersen. Die Vorsitzende der Bunten Liste im Gemeinderat und Sprecherin des Arbeitskreises Asyl rief dazu auf, das Stadtleben noch mehr mitzugestalten. Das machten schon viele in Hechingen, und darauf könne man stolz sein. Man dürfe sich nicht irremachen lassen und müsse sich gegenseitig unterstützen, um ein positives Miteinander zu gestalten. Der deutsche Wohlstand baue auf internationale Arbeitsteilung und Weltoffenheit, stellte Matthias Linckersdorff für die Hechinger FDP fest. Sein Ruf nach Schutz der EU-Außengrenzen und geregelter Einwanderung brachte ihm Buhrufe ein.
Eine Schülerin hat Angst
Jeder ist ein Fremder, fast überall, daran erinnerte Herbert Würth. Der evangelische Pfarrer sprach auch für seinen katholischen Kollegen Michael Knaus und stellte fest: Alle Menschen haben das Recht, hier ohne Angst zu leben. Als Migrantenkind in der dritten Generation trat Giovanna Ciriello ans Mikrophon und fragte, ob sie etwa bald wieder heimatlos sein müsse. Die Menschenrechte zu ihrem Thema machte Elisabeth Ilg-Reininghaus als Sprecherin der Hechinger Gruppe von Amnesty International. Leonie Schneider-Loye, stellvertretende Schulleiterin des Beruflichen Schulzentrums Hechingen, zitierte eine Schülerin, von der sie gefragt wurde, ob es sein könne, dass sie abgeschoben werde, obwohl sie einen deutschen Pass hat. Das war wie bei Jad aus Syrien so ein Satz, der mehr sagt als 1000 Worte.