Der ehemalige Präsident des Bundessozialgerichts mahnt eine „Zeitenwende“ im Sozialstaat an.
Auf Einladung des CDU-Stadtverbandes Hechingen und des CDU-Bundestagskandidaten Christoph Naser hielt der ehemalige Präsident des Bundessozialgerichts Prof. Dr. Schlegel am 07.02.2025 im evangelischen Gemeindehaus in Hechingen einen Vortrag mit dem Thema: „Zeitenwende – Wie kommt Deutschland wieder auf einen grünen Zweig?“.
In seiner Begrüßung wies der stellvertretende Stadtverbandsvorsitzende Ronny Stengel darauf hin, dass angesichts der aktuellen immensen Herausforderungen im Sozialsystem grundlegende Reformen dringend geboten sind und die Politik hierauf eine Antwort haben und geben muss. Er bedauerte allerdings, dass es im aktuellen emotionalen und moralisierenden Wahlkampf schwer sei, eine sachliche Debatte überhaupt zu führen, obwohl wir eine solche zur Lösung unserer vielfältigen Probleme dringend bräuchten.
In seinem Grußwort hob der Bundestagskandidat Christoph Naser darauf ab, dass die letzten Tage im Wahlkampf eine Unterscheidbarkeit der Parteien aufgezeigt hätten, was für den politischen Ideenwettstreit entscheidend sei. Er bedankte sich für die Impulse der Veranstaltung in Hechingen und wies darauf hin, dass der Sozialstaat ein Update brauche, um die soziale Sicherheit auch in Zukunft zu gewährleisten, so Naser. Er betonte: „Als Christdemokraten helfen wir jedem, der beispielsweise wegen Krankheit in Not gerät. Aber wir müssen ehrlich sein: Die Pflegeversicherung muss auf ein stabiles Fundament gestellt, die Rente zukunftssicher ausgestaltet und das Bürgergeld der Ampel reformiert werden.“
Der anschließende Vortrag von Prof. Dr. Schlegel versetzte die zahlreich erschienenen Besucher zunächst in großes Erstaunen. Er legte dar, dass die Sozialleistungsquote in Deutschland mittlerweile über 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreiche, so dass hierzulande praktisch jeder dritte Euro für Soziales ausgegeben werde. Der Anteil der Sozialausgaben an den Gesamtausgaben des Bundeshaushalts betrage etwa 45 Prozent und sei damit der größte Ausgabenblock des Bundeshaushalts. Die Ausgaben der Träger der im Grundsatz beitragsfinanzierten Sozialversicherung reichten an das gesamte Steueraufkommen von Bund, Ländern und Kommunen heran. Prof. Dr. Schlegel wies auf die Erfolgsgeschichte unseres Sozialsystems hin, analysierte aber zugleich – teilweise schonungslos – die aktuellen Probleme. Exemplarisch veranschaulichte er dies am Beispiel der Rentenversicherung: Während 1962 auf einen Rentner noch sechs Beitragszahler entfallen seien, könnten dies im Jahr 2030 nur noch 1,5 Beitragszahler sein. Auch habe sich seit 1960 die Lebenserwartung um rund zehn Jahre erhöht, ebenso die durchschnittliche Rentenbezugsdauer. Als anerkannter Experte versuchte Prof. Dr. Schlegel, Lösungswege in verschiedenen Bereichen aufzuzeigen, wobei er im Ausgangspunkt klarstellte, dass eine gute Sozialpolitik zunächst immer eine gute Wirtschaftspolitik voraussetze: „Denn jeder Euro, der in Deutschland ausgegeben wird, wofür auch immer, muss zuvor in diesem Land erwirtschaftet und über Steuern oder Beiträge aufgebracht werden“. Im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende („Bürgergeld“) plädierte er für Gesetzesänderungen, die etwa die Pflicht zur Arbeitssuche, regelmäßige persönliche Meldungen und Nachweise gegenüber den Jobcentern und ein leistungsrechtliches Abstandsgebot zu sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten vorsehen. In Bezug auf die gesetzliche Krankenversicherung bezeichnete er die Einführung der digitalen Patientenakte als einen wichtigen Schritt, um Kosten zu sparen, wobei er die eingeräumte opt-out-Möglichkeit für Patienten für fatal ansah. Bei der gesetzlichen Rentenversicherung hielt er die Erstreckung der Versicherungspflicht auf Selbstständige und bislang versicherungsbefreite Personen für notwendig. Prof. Dr. Schlegel mahnte abschließend eine „Zeitenwende“ auch im Sozialstaat an, indem er resümierte: „Reformen in den sozialen Sicherungssystemen sind angesichts des demografischen Wandels und der steigenden Kosten des medizinischen und technischen Fortschritts unvermeidlich. Die politisch Verantwortlichen müssen sich zu einer Aufgabenkritik durchringen und den Eindruck vermeiden, der Staat könne dem Einzelnen alle Unwägbarkeiten und Risiken vollständig abnehmen sowie jegliche Krise für den Einzelnen unmerklich machen. Vor allem ist die Zeit einer ehrlichen Diskussion über eine finanziell und personell nachhaltige Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme gekommen. Das erfordert Mut und Ehrlichkeit sowie einen gesellschaftlichen Dialog, der bei der Betrachtung der Fakten beginnen und frei von Umverteilungsideologien sein sollten“.